04p :: Über die Dialektik von Suchen und Finden.

Aus Anlass eines Jahreswechsels.

Aus dem Augenwinkel vernahm ich die bückende Bewegung. Flink, streckte sich die Hand, und schnappte nach etwas, das am Boden lag. Aus der Wahrnehmung entsprang eine blitzartige neuronale Tätigkeit, das Registrieren, das Ausfüllen und Nachrechnen der bruchstückhaften Erscheinung. Sensation. Noch sah ich das rosa-lila Knöllchen, das sogleich vom Pflaster in der Faust der Gestalt verschwand, konnte aus hastigen, kleinen seitwärts sich windenden Bewegungen des zu der Gestalt gehörenden Kopfes etwas erahnen, eine Hypothese ableiten. Der Alltag. Es ist die kalte Jahreszeit. Jacken, Mäntel, Hauben, allerorts Verhüllendes weiten und weichen die Silhouetten jener, die unterwegs sind, bis an die Grenzen der Unkenntlichkeit auf. Individualitäten und Identitäten verschwimmen oder vereisen, je nach Gefrierpunkt. Und unter der sichtbaren Verpackung glüht es. Hat mich jemand gesehen? 

Die Ecke Gumpendorferstrasse und Windmühlgasse ist keine Ecke im herkömmlichen Sinne. Da fällt zunächst einmal das Eckige als stadträumliche Formation weg. Rundungen herrschen vor. Steil fällt das letzte Stück der kleinen Gasse, macht noch eine letzte Kurve, bevor sie wie ein Wildbach in einem Fluss einmündet. Dabei öffnet sie sich, wird breit, ergiesst sich förmlich. Die Strasse wiederum ist an dieser Stelle auch ein steiler Anstieg, wenn man von Flüssen reden würde, dann wäre diese Passage eine Stromschnelle. Nun stelle man sich vor, einer sei am Weg in seine Arbeit und dieser Weg, den jener nehmen muss, ist die gegen die Flussrichtung. Er fährt mit seinem Fahrrad die Strasse lang, dann die steile Passage hoch, biegt dann rechts in jenem eleganten Bogen in die Gasse ein, setzt so den Aufstieg fort um dann gleich links in die nächste hangaufwärts führende Sackgasse einzubiegen. Umgebend prasseln noch andere Gassen den Hang hinunter, die Schadekgasse zum Beispiel, die dann gerade mal 20 Meter weiter in die Strasse mündet und so wird der Ort zu einem kleinen Knotenpunkt samt einem wohlfälligen Plätzchen. Das sonst vorherrschende Prinzip der schluchtartig verlaufenden parallelen Häuserreihen ist hier aufgebrochen, Parzellen werden teilweise in steile und spitze Winkel gezwungen, Eckgebäude nehmen grandiose Akte von stilisierter Raumbeherrschung vor: Hier bin ich. Das Apollokino, der FLAK Turm. Ich arbeite mich von unten hinauf. Jeden Tag. So wie heute. Eben bin ich damit beschäftigt, die besprochene Steigung, die die Auffahrt von Gumpendorferstrasse zu Windmühlgasse regiert, samt dem vor mir zum Stillstand gekommenen Auto, das mich eben noch eifrig überholt hatte, mit dem erwähnten Fahrrad mittels konzentrierten Pedalentritten zu passieren. Tränen, Wut, alles gut und gesund, erfüllen meine Augenhaut. Ein flinkes Bücken. Das Grau in grau. Eben diese überraschende Flinkheit. 

Die Schlagzeile würde lauten: Wien, Mariahilf. Eine Frau findet zehn Euro auf der Strasse. Zugegeben, eine Zeitung, die mittels solcher Artikel um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit buhlt, wird es auf die Dauer schwer haben, sich über Wasser zu halten. Aus der subjektiven Perspektive umformuliert, würde sich das Ereignis wie folgt beschreiben: Eine mir unbekannte Frau mittleren bis reifen Alters findet vor meinen Augen einen Zehneuroschein auf der Strasse. Zunächst ist es egal ob Frau oder Mann, ob alt oder jung, die betreffende Person ist ein vom Schicksal zufällig auserwählter Repräsentant des mir fremden Individuums. Er oder sie ist zunächst genau das: fremd, mir unbekannt, es besteht keine persönliche Beziehung zu ihm oder ihr, sein oder ihr Schicksal ist vor diesem Ereignis mir gleichgültig. Hinzu aber kommt das Element der Beobachtung. Ich sehe zu, wie es sich ereignet und ich deute: Sie hat Glück. Fragen drängen sich auf. Die erste: warum nicht ich? Warum sie? Sie ist nun zehn Euro reicher, vielleicht auch glücklicher. Hintergrundmaterial: mir berichten Geschäftspartner, wie sie am Weg zu mir, in meine Werkstatt, Geld auf der Strasse gefunden haben. Das, während ich dienstbeflissen im Innenraum auf sie warte, abseits der Möglichkeit eines solchen bereichernden Zufallsfundes. Ich erlebe mich ausgeschlossen und abgetrennt. Eine Traurigkeit ereilt mich, die ich versuche von mir zu weisen oder zu besänftigen. Es ist ok. Eines Tages wirst auch du Geld auf der Strasse finden. Wer weiss, sogar einen Fünfziger. Einen schönen braunen dicken Fünfzigeuroschein. Ich wage gar nicht höher hinaus. Einen grünen Hunderter, einen gelben Zweihunderter oder einen wiederum lilafarbenen Fünfhunderter. Den gräulichen Fünfer lassen wir mal ausser Acht, genauso wie die kupfernen oder messingenen Münzen. Alltagsfunde. Ich bin ein guter Mensch. Ich arbeite für mein Geld. Zähle es zufrieden am Ende des Tages. Spiele auch so gut wie nie die Lotterie. Und wenn ich es tue, dann bin ich beruhigt, null Euro gewonnen zu haben. Gut so. So formuliere ich meine Scheuklappen gegenüber den grossen und zeitweise abrupten, sich wie eine Art von Ungerechtigkeit anmutenden, Umverteilungen in der Welt da draussen. Wie ein Traktor. Langsam und bedächtig, Furchen ziehend, bahne ich meinen Weg. Vielleicht ist es auch so, dass dies eine eigene Ästhetik hat. Vielleicht wirkt es beruhigend. Der bedächtige Mann mit seinen langsamen aber überlegten Bewegungen. Ein Uhrwerk. Voraussehbar. Ja, als ich das Kompliment einmal bekam, da wusste ich: Es wirkt auf andere beruhigend, da jenes bis an die Grenzen des Überbordenden elaborierte, im Laufe der Jahre immer weiter verfeinerte Konzert an täglichen Ritualen genau diesem Zweck dienen: mich in einer inneren Unruhe, die ich mit mir trage zu stabilisieren, zu beruhigen. So weiss ich: viel Zeit meines Tages geht darauf, die Mehrzahl meiner Tätigkeiten dienen dazu, mich zu beruhigen. Ruhe. Dem gegenüber steht die Möglichkeit der spontanen und kreativen Selbstverwirklichung, die Freude am Neuen, am Unerwarteten, am Risiko. Das wäre dann kein Traktor. So erfährt sich der Beobachter der Fundszene, spürt sich und sein Hintergrundrauschen. Das vor seinen Augen sich entfaltende Ereignis wird als ein spürbarer Kontrast zu seiner eigenen Konstitution erlebt. Gefühle machen sich breit. Jenseits der ersten Frage, die bereits gestellt wurde, ergibt sich eine weitere: Wie ist es um die Befriedigung der Finderin bestellt? Habe ich das richtig gesehen? War das eine diebische Freude? Heisst das, sie hätte gar nicht widerstehen können? Deute ich richtig, dass sie doch durch den verstohlenen Blick, links und rechts, hat mich eh keiner gesehen, eine wenn auch verkümmerte und doch nicht ganz bewusstseinsfähige Art von Schuldbewusstsein (wenn schon nicht eingestanden dann doch zumindest) kommuniziert hat? Und des weiteren: Ist dies, das so vermutete Aufkeimen des Diebischen in den kleinen Ritzen des Trottoirs des Alltages, ein Zeichen dafür, dass die Welt verkommen ist und wir, also die Menschheit en bloc, doch keine Chance gegen den zerstörerischen Vormarsch der Niedertracht haben? Sehr dramatisch, gebe ich schon zu. Aber schön langsam. Sehen wir, was hiervon eine Berechtigung haben könnte und was reine Hysterie ist. Die Hypothese lautet: Ich bin Zeuge des absolut banalsten Verbrechens geworden. Es hat sich vor meinen Augen ereignet. Die Sorte von Schandtat, die sogar von der Abenteuerlust am meisten befreiten Schicht der Gesellschaft mit Befriedigung vollführt wird. Das Hausfrauenverbrechen. Begriffen im Speziellen durch die Reduktion der Hemmschwelle auf ein Minimum, bleibt die Tat der folgenden Überkategorie zugehörig: Gemeine Aneignung eines zuvor nicht einem selbst gehörenden Wertgegenstandes durch die Ausbeutung der sich bietenden Möglichkeit. Man möge mir den Ausdruck verzeihen. Mutatis mutandis gilt genauso: das Hausmannsverbrechen oder das Verbrechen des kleinen bzw. des kleinsten Mannes. 

Die Repräsentantin. Tante, Tantin. Es sei ihr gegönnt. Die Zehn Euro in Zeiten der Teuerungskrise, der Heizkostendeckel, der Teuerungsbonusse, der Inflationsabgleiche, der Zinssteigerungen und der Reallohnverluste, mögen sie ihr Gutes tun, doch etwas lindern. Der, der den Schein verloren hat, dem kann dieser ja nicht so wichtig gewesen sein. Der Schein. Ihr Schein, sie scheint, scheint etwas mehr, das Glühen in ihr, als noch eben vorher. Oder war es doch eine Frau? Verlieren Frauen auch Geldscheine? Ich weiss, es ist nicht mehr ganz einfach bzw. nicht mehr ganz ungefährlich nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern suchen zu wollen, aber ich tue es, weil ich gerne an einer Andersartigkeit, an einer wohligen Asymmetrie glauben möchte.

Die schwarzen Stiefel sind von der schlabberigen Sorte, breite flache Fusspartie, eng an den Knöcheln und doch zugleich weit und unförmig, weiten sie sich entlang der Fesseln wie Eiscreme Stanitzel kegelförmig und faltig auf, um die Beine der Hose in einem Knuddelmuddel an Faltenwurf einzufassen. Hosenbeine verschwinden im Schlund der Stiefel, werden eingesogen, bilden schwimmreifenartige Ringe. Sie entspringen einer durch die Jahre verbreiterten Hüfte, die selbst aber durch den Überwurf des Mantels verborgen und bloss erahnbar bleibt. Der Mantel bildet die Aussenschicht, die letzte Deckphase einer unzähligen Vielfalt an wärmeisolierenden Oberkleidungsstücken, deren erst letzte Funktion die des Schmückens sein kann. Man denke an Pullover, an Strickjäckchen, an Geborgtes und Geerbtes, an Hängen- und Klebengebliebenes aus den Untiefen einer zeitbefreiten Textilindustrie. Runde Schulter, Kragen und Kapuze, Gewölbtes und Gepufftes bis zu den Ohren, dazu Halstücher und Schales, verdoppelt und verdreifacht, Kinn und Backen umspülend, lose, ein Hängen nebst dem anderen, weitere Faltenwürfe, errötetes Gewebe, spitze kleine Nase, irgendwo noch Haare dazwischen, kurz bevor alles durch eine Mütze des letzten Jahrhunderts, Helm und Krempe, gegen Sternschnuppen und Meteorschauer ebenso Schutz bietend wie vor einfallenden Einhörnern und allfällig glitzernde Bescherungen rechtens abweisend, einen Charakterpanzer aller Art vervollständigt. Die Frau von heute lässt sich nicht in die Karten blicken. Sie nimmt, weil sie kann, sie nimmt Form an, spart nicht mit Knautsch und mit Zone, wirft mit Tennisbällen um sich und nach allen und jeden, der ihr in die knausrige Quere zu kommen droht. Es kann nicht einfach sein. Alles abzulegen bedeutet sich Zeit zu nehmen, tief in die Kiste zu greifen, erledigen und erlegen, hinter fest verschlossenen Eingangstüren. Höchstens ein kleiner Wadlbeisser ist zugegen, darf dann am Rockzipfel Schutz vor den herbeigekläfften phantasierten Verfolgern ereifern. Kein Regen, kein Wind, nichts kann hier etwas anhaben, nichts ausrichten, keine Botschaft, kein Postfach, das hier einen Schlitz oder Spalt offen wäre. Farben wie Creme, wie Arbeitsblau, wie Altrosa bestimmten das Spektrum. Braun, wie eine mitteldeutsche Herstellstätte für Haushaltselektronik. Liebe steckt fest, im Detail. Das ist sie. Unsere Diebin des Alltags, eine erodierende Nagerin der allzu abstrakten Moral. Fragwürdig. Sie und die Moral. Beide. Würde man mich auf einer Wache fragen, ich würde sie nicht wieder erkennen. Einer Gegenüberstellung würde ich nach Möglichkeit aus dem Weg gehen.

Die Täterbeschreibung bietet einen Brennpunkt, dessen Orbit wir nun kurz vor dem Zustand des sich Verbrennens, Finger und was sonst, auf einer ballistischen Bahn verlassen, nun zur Genüge beschleunigt und Fahrt aufgenommen, um nun in aller Trägheit die in die Unendlichkeit der gesellschaftlichen Tragweite sich öffnende Parabel im geistigen Flug zu erfahren. Nach der Manier eines vermeintlich liebenswürdigen, weil auf eine Fahrt ohne Wiederkehr in das Weltall hinausgesandten, Erkundungssatelliten.

Flink. Wohltuende Asymmetrie. Sich bücken. Abgehen, dann Aufgehen. Sonnengleich. Aufgehen im Abgehen. Erfüllung, finden. Sie geht auf, blüht auf, in dem, dass sie abgeht. Sie geht ab, ab, tanzt, erfüllt die Bühne, füllt den Raum, mit sich, geht ab, man sieht ihr dabei zu und entwickelt das Gefühl, das sie selbstvergessen ein Stadium von reiner Energie erreicht hat und alle, die sie berührt, mit dieser ansteckt. Doch mit etwas Gutem. Flink. Kreise, Ellipsen, Parabeln und zuletzt hyperbolisch, gehalten bloss von unberührbaren Asymptoten. Sie kann genauso gut ein er sein. Denn sie ist ein Teil von ihm, eine Ergänzung, eine Erweiterung im Licht, gehalten durch Bänder und durch Fesseln, die ihn genauso an sie bindet wie sie auch an ihn gebunden erscheint. Er beobachtet während sie tanzt, während sie diesen einzigen wunderbaren, dem finalen Meisterstück einer Ballerina gleichend, Schritt ausführt. Eine Spitze etwas nach vorne, die Knöchel doch dicht aneinander, Knie gestreckt wie gebeugt, Rücken Ehrfurcht gebietend kerzengerade, zeigt sie dem Nebel der Stadt das eleganteste verstohlene Bücken, welches man sich nur vorzustellen vermag. Semiotik. Sinnhaftigkeit. Die Sirenen der Stadt heulen, bilden einen fernen Kranz, geflochten aus allen möglichen Färbungen der Aufregung. Hier ist die Poesie, hier entsteht etwas Ungesehenes, wird vor meinen steigenden Augen vollendet und zerplatzt zuletzt wie eine feige Seifenblase. Ich komme kaum vom Fleck, kann die versprochene Tragweite eben nicht bedienen. Muss erst diese Gänsehäute abschütteln. Ihre Fingerspitzen erreichen den Schein, einen verloren geglaubten Schein. Was ist wenn das jeder macht? Und was, wenn das jeder macht? Wie geht es dann weiter? Die Frage des Wachtmeisters, eine nur allzu knüppelhafte Frage, darauf bedacht, der sozialen Kohäsion zuwiderlaufend scheinende, als solche befundenen Blüten der Eigenartigkeit artgerecht zu entsorgen. Wäre ich sie, wäre ich anstatt ihr vor der rosa-lila Blüte gestanden, die so urplötzlich da war und mich nun anblinzelt, ja da würde ich jetzt bestimmt ganz anders schreiben. Deswegen kann sie keiner verurteilen. Sie tat das, was alle an ihrer statt tun würden. Die Gelegenheit am Schopf packen. Sich bereichern. Kann man sich eine Indianerkultur vorstellen, eine Form der Sozialutopie, die die Individuen so zu formen weiss, durch welche mysteriösen Knickse von Tabus und Geläut auch immer, dass diese sich eben nicht bücken und zulangen sondern doch stoisch und gerade aufrechten Ganges ihren vorbestimmten Weg gehen? Ganz unbeeindruckt? Würde so eine Kultur nicht schon längst von einer anderen weniger Skrupelverhafteten überrannt und bis zur Unkenntlichkeit geknechtet worden sein? Nimm mich, sagt der Schein. Wir hätten alle gerne Kinder, auf die wir stolz sein können.

Da lag es nun einmal. Ein gefundenes Fressen. Und so sollte es keiner zunächst einem anderen einmal übelnehmen, wenn dieser andere die Gelegenheit beim sprichwörtlichen Schopf packt. Packend. Lässt nicht los. Der Mensch, der sich im Laufe der Evolution von der Notwendigkeit des auf allen Vieren Laufens befreit hat und seine Anatomie soweit in den Griff bekommen hat, dass er nun stets griffbereit, etwas, das er begehrt einfach sich anzueignen versteht. Aneignung, ein Besitztum ausbilden, Sichtbares und Unsichtbares im Stande zu verwerten, seinen Fortbestand damit absichern sei als solches etwas Legitimes und oft sei es ein blankes Gefühl des Neides, hervorgerufen in den abgehängten anderen, die tatenlos zuzusehen gezwungen sind, das, was diese Legitimität als eine mehr oder weniger verzweifelte Ersatzaktion, in die Verlegenheit des Ankreidens treibt. Vergriffen ist nun der Schein. Im Kleinen wie im Grossen und damit auch korrumpiert der Glauben an eine vermeintlich bessere Welt. Wie steht es um die gerechte Verteilung? Wie steht es um die Brüderlichkeit? Wie steht es um Ehrlichkeit und um das Bemühen, die Dinge auf ihren richtigen Platz zu hieven, Ordnung zu schaffen? Kleinlaute Schreie, ein Quieken der Leerausgegangenen, die Kakophonie des Schmerzes findet zu genügend Kehlen um einen Chor der Aufgebrachten zu erschaffen. Du sollst nicht stehlen, du sollst weder Weib noch Gut deines Nächsten begehren, du sollst die Grenzen, die das Gute ausmachen, achten und wahren, du sollst dem Schönen eine redliche Chance bieten. Hier spricht deine Erziehung, hier spricht dein Gott, hier sprechen die Stimmen, die Grosses erschaffen wollen und die ebenso daran festhalten, dass es der Einzelne ist, der die Niedertracht in Schach halten kann, wenn er sich nur selber und sein Begehren an die richtige Leine nimmt. Einen Maulkorb seinem Ergreifen wollen aufsetzt und dabei es doch vollbringt, dem Begreifen wollen Raum zu geben. Die Gestalt der eigenen Existenz, die Form des Wirkens, die doch nicht mit exzessiver Karitativität und naiver Grosszügigkeit verschlammt werden darf, muss eine wohlfallende sein, eine, die man auch an seinem Stammtisch wie auch an seinem Sterbebett vertreten und herzeigen kann. Das bin ich. So sehe ich aus. Das habe ich genommen. Das konnte ich nehmen. Jenes habe ich gelassen. Das konnte mich nicht aus der Ruhe bringen. Dafür kann ich dankbar sein. Das hätte ich anders gemacht. Ich habe an der Ruhe und an der Ordnung, an der Stimmigkeit dieser Welt ein Stück weit, heute, die paar Jahre, mitgewirkt. Ich habe die Grenzen gesehen. Ich habe geweint. Ich habe gelacht, mitgefühlt, etwas dabei gedacht, nicht zu viel versprochen, das Meiste gehalten, auf mein Gleichgewicht geachtet, mich nicht zu ernst genommen, versucht, mir den Gedanken, ich sei der Mittelpunkt der Welt, vom Leib zu halten. So schön das auch wäre. Ich habe dieser Frau zugesehen und sie tat mir leid. Sie hatte etwas zu Fressen gefunden. Sie hat sich gebückt. Sie war erregt. Sie konnte es kaum fassen, konnte es kaum erwarten, hinterher, als die akute Gefahr der Schelte sich in einen Schatten der Vergangenheit gewandelt hatte, voll kindlichem Stolz von ihrem Fund zu berichten. Schau, ich habe heute etwas gefunden. Oder: Schau was ich heute gefunden habe! Das macht mich zu etwas besonderem. Ich bin ein Glückskind, Sonne und Mond sind mir zugewandt und tragen mich und ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Ist das nicht schön? Findest du das nicht auch schön? Sieh mich an, freu dich mit mir! Aber wieso schaffst du das nicht? So kann ich nur zu einem Schluss kommen. Du bist nicht mein Freund! Ich habe es immer schon gewusst! So eine Gemeinheit! Bitterkeit für einen Moment. Mein Knöllchen ist aber da um mich zu trösten. Das kann mir keiner mehr nehmen. Umso lieber wird mir mein Schein. 

Nun, man merkt gleich. Es ist keine leichte und einfache Sache. Einmal aus der Bahn, einmal in Unruhe versetzt, beginnt das innere Organ der Gefühlsregungen einem Wellenbecken gleich hin und her zu schwappen und es dauert seine Zeit, bis sich die Wogen wieder geglättet haben. Zu schön um wahr zu sein, wäre hier der Slogan, Verbrechen zahlen sich nicht aus. Ausser das mythische perfekte Verbrechen, jenes eben schon. Kann das beschriebene Ergreifen eines unbeaufsichtigten Zehneuro Scheins überhaupt als Verbrechen gehandelt werden? Verlierer und Gewinner gibt es schliesslich auch abseits der Register der Strafprozessordnung, also ist Verlieren und Gewinnen an und für sich noch nichts Illegales. 

Hier greift der Staat. Wir sehen zwar kein Eingreifen im real erlebbaren Sinne, das Greifen sei von der Qualität eher wie die plötzlich einsetzende Ahnung über einen zunächst verborgen gewesenen Maschinenteil innerhalb eines produktiven Gefüges. Ein Crescendo. In dem Moment, als die Kabine des Aufzuges die kritische Geschwindigkeit im Zuge des durch den Riss der Trägerkabel verursachten freien Falles überschritt, kniffen die Backen der Notbremse mit zunehmender Kraft gegen die Führungsschiene, verhinderten einen unkontrollierten Aufprall der Kabine gegen den Sockel der Anlage. Die Notbremse greift im Falle eines Systemversagens. So ist das vorgesehen. Der Staat, den wir heute kennen, wurde vor langer langer Zeit ausgedacht. Es lässt sich vermuten, dass der ursprüngliche Zweck gewesen sein muss, Rechte zu wahren. Ganz allgemein. Einiges von dem kann man heute noch erahnen. Eines der ursprünglichsten Rechte jedoch, eines das aber auch wohl am ehesten Verletzungen ausgesetzt war, muss das Besitzrecht gewesen sein. Liegt in der Natur der Sache. Siehe auch die Wichtigkeit, die der Kontinuität von Landbesitz im Staatswesen beigemessen wird. Der Staat garantiert den Fortbestand der Besitzverhältnisse und sichert dadurch auch sein eigenes Überleben. Das ist das feudale Erbe des modernen Staates, der sich erst allmählich seiner von schwankenden Visionen befeuerten lenkenden Pflichten bewusst wird. Da müssen wir lang um zu überleben. Viel Widerstreben, viel Widerstand, Verschlafenes, einiges an Unlust und immer wieder Verschlafenes blubbert im Zuge dieser pubertär pickeligen, Akne verseuchten Metamorphose, die noch wohlwollend betrachtet, als ein Erwachsenwerden verbucht werden kann, hoch. Der Staat ist nicht blind, nur weil wir ihn nicht sehen oder spüren. Der Staat ist da und beginnt in bestimmten Situationen zu greifen. Der Staat ist griffbereit. Der Staat beugt vor. Beugen und greifen. Fragen der Reizschwelle. Der Staat hat es sich in den Kopf gesetzt, Bargeld auf lange Sicht aus der Erlebniswelt der Handlungssubjekte zu entfernen. Auf Scheine gedruckte oder in Münzen geprägte Wertvorstellungen werden in den Katalog der zu streichenden Möglichkeiten aufgenommen. Ein Nachdenken über Möglichkeiten. Und obwohl beide der Maxime hörig sind, den Fall mit allen verfügbaren Mitteln zu verhindern, zeigt der Staat durch die Fähigkeit einem gesellschaftlich artikulierten Prozess Raum zu geben, seine Überlegenheit gegenüber der Backenbremse des Aufzuges. Beugen und greifen, ohne zu zögern oder ohne zu haften, ungebremst, da sind wir wieder bei unserer glühenden Protagonistin, die ohne es noch zu ahnen, sich bereits in einem schwelenden Konflikt mit dem ebenfalls durch Beugung und Griffbereitschaft gezeichneten, mit entsprechenden Organen wohl ausgestatteten Machtapparates befindet. Die Mühlen mahlen langsam, in den Fängen der Bürokratie kann es schnell einsam werden. Wenn man lacht, lachen alle mit einem, wenn man weint, ist man alleine. Der Staat weiss schon warum er Geldscheine ausgemustert sehen möchte. Der Staat mag keine Zufallsfunde, mag keine Verlustanzeigen. Das alles bedeutet Verwaltungsaufwand. Ich persönlich kann den Staat bis zu einem gewissen Teil verstehen, aber gerne würde ich ihm auch von der Schönheit der glücklichen Augenblicke erzählen, ihm doch versuchen ein Stück die Augen für das wahre Leben zu öffnen. 

Gerne würde ich ihm ein Lied vom Schmerz und von der Trauer über den Verlust eines Zehneuro Scheins singen um dann gleich in der nächsten Strophe von dem Glück eines entsprechend notierten Strassenfundes zu trällern. Gern würde ich auch ihr das gleiche Lied singen, vielleicht die Strophen vertauscht, aus dramaturgischen Gründen. Das Bekannte zuerst dann das, was bewusstseinsferner ist. Glück und Unglück, Drama oder Tragödie, auf jeden Fall heilsam, wirksam, fügsam, in keinster Weise wortkarg, niemals zu leise, niemals zu alt und schon gar nicht irgendeine Form der Gewalt verherrlichend. Möge sie, die gut verhüllte Gestalt, doch zum Laden gehen, Wolle für zehn Euro kaufen und daraus einen entzückenden vielleicht sogar farbenfrohen und überraschend glitzernden Schal stricken, möge sie diesen dann mir oder jemanden den sie kennt, vor die Tür legen, schön verpackt, samt Begleitbrief, auf der Matte abladen, möge dann auch keine andere Hauspartei das Paket für sich entdecken. Ich werde dann den Schal schön verknoten, aufrunden, veranlagen, auf dem Tisch am Balkon aussetzen bis dann im Frühling aus dem kleinen gelben unsichtbaren Ei in dessen Knotenmitte ein taufrischer Balkenvogel schlüpft und zwitschernd eine Lektion verkündet:

The extensive network confluent with the medial forebrain bundle (MFB) is traditionally called the “brain reward system.” In fact, this is a general-purpose appetitive motivational system that is essential for animals to acquire all resource needs for survival, and it probably helps most other emotional systems to operate effectively. It is a major source of life “energy”, sometimes called “libido.” In pure form, it provokes intense and enthusiastic exploration and appetitive anticipatory excitement/learning. When fully aroused, SEEKING fills the mind with interest and motivates organisms to effortlessly search for the things they need, crave, and desire. In humans, this system generates and sustains curiosity from the mundane to our highest intellectual pursuits.

A: Yesterday something happened behind your back. It made you dream, in a disguised form, of something that happened a long time ago. Something that also happened behind your back. But now you are no longer a child, and you discover it. Do you recall discovering something unpleasant as a child? (1)

P: What?

A: Do you recall discovering something unpleasant when you were a child? Something you told me about before?

P: I can’t think today, doctor.

A: Well, you dreamed that someone whom you ought to respect acts badly, and you discover it. That happened once before, and it disappointed you.

P: You mean my mother?

A: You see now!

P: (Nods.)

A: Listen carefully. This business about your mother hurt you more than you think it did. Every child likes to imagine that his mother doesn’t do such things, not even when she is married — especially since mothers preach at you, and tell you what is right. Then you discover that they too are human, and have faults, and don’t always act the way they talk. She is human. She isn’t bad. She is just human. She is a woman. She was probably a good wife while your father was alive, but she did not cease being a woman when your father died. That hurt you. You see it?

P: (Nods.)

(…)

A: And there is another thing too. Your wife also had intercourse behind your back… just like your mother. Hence your wife’s actions hurt you more than might have been the case otherwise, because a sore spot in you was hit twice. Do you see it?

P: (Nods.) (2)

Finden. Entdecken. Neugier. In der Welt sein. Schnüffeln. Enthusiasmus. Begeisterung. Noch mehr Neugier. Suchen. Unterwegs sein. Streunen. Da draussen. Sein. Aufregung. Abenteuer. Begehren. Nicht genau wissen. Angst nicht spüren. Wollen, suchen, tun, suchen, schnüffeln, erkunden, aufdecken, begeistert sein, sich verlaufen, sich wiederholen, sich wundern, erstaunen, feiern, ergreifen, Gelegenheiten finden, einen Schatz ausheben, eine Insel entdecken, eine Lücke finden, eine Nische, eine Krone, einen Gipfel. Noch mehr Neugier. Endlos, rastlos, unentwegt unterwegs, sein, sein, tun, suchen, tun, schnüffeln, graben, was ausprobieren, nagen, die Ohren spitzen, suchen, nicht genau wissen was, einfach nur suchen, bloss offen sein. In der Welt sein. Da draussen. Sich zeigen. Sich ausprobieren. Fragen. Tun. Die Gegend erforschen. Etwas finden. Sich trauen. Frei sein. Soweit ich es beurteilen kann, hat auch ein Traktor ein Eigenleben oder zumindest doch ein Innenleben. 

Das Innenleben des Traktors beginnt bei einem archaischen Antriebsstrang. Dieser zieht sich über die gesamte Länge des Fahrzeuges von vorne, wo Luft angesaugt wird, über den mächtigen Motorblock, wo eine Reihe von Kolben ihren von Explosionen geleiteten Dienst versehen, hier wird Drehmoment erzeugt, über das Getriebe, welches das Drehmoment erst vernünftig dienstbar macht und diesen nach hinten an die Kardanwelle weitergibt, die wiederum in den wulstigen Knoten des Differentialgetriebes inmitten der gusseisernen Hinterachse, ganz frei von Manschetten, an die mächtigen Hinterräder, dessen Auftrag es ist, gross genug zu sein, um in jedem Terrain noch Traktion zu haben, verteilt. Viel Luft wird angesaugt, viel Diesel dazu gemischt, das Klackern der Ventile zur seitlich hängenden Nockenwelle, festes, erdbebenartiges Ruckeln der Schaltung, die vergleichsweise winzigen Führungsräder der Vorderachse, bloss um die Spur zu halten, bloss um vorne nicht zu einzusinken. Alles ordnet sich dem Auftrag des Ziehens unter. Es muss nicht schnell sein, aber verlässlich. Der Trieb des Traktors folgt dem Rhythmus des Ackerns. 

Je mehr ich mich mit der Materie auseinandersetze, desto mehr merke ich wie sie und ich, wir uns in einem Orbit um eine bestimmte Sache befinden. Wir sind ähnlich und nicht verschieden, wie Seiten einer Medaille, wie zwei Monde eines gemeinsamen Planeten. Also in welchem Verhältnis stehen die beiden? Wie könnte man die Psychodynamik, die in diesem Aufeinanderprallen von Tante und Traktor entsteht beginnen zu entwirren? Erstens soll gemerkt sein, das was schon sehr auffällig ist, bei dem Paar handelt es sich um eine Frau und um einen Mann. Hinzu kommen die anfänglichen Beteuerungen die Geschlechterfrage betreffend. Diese, ja könnte genauso ein Mann sein, es spielt keine Rolle ob Mann oder Frau, erscheinen in der Art und Weise wie sie vorgebracht werden, wie eine Abwehrreaktion, in der ein auffällig vehementer Versuch unternommen wird, den vorliegenden Tatsachen die Signifikanz zu entziehen. Nicht ganz ohne Mitgefühl und Anerkennung wage ich die Feststellung, muss schon sagen, da, im Angesicht der Dame, plustert der gute alte Traktor ganz schön aus der eigenen Tasche. 

Gleichzeitig bin ich bestrebt, meine Metaphern ernst zu nehmen. Streunen, Ackern, Bücken, Greifen. Umkreisen. Entdecken. Bei all diesem Ernstnehmen, die sich auch in den konzentrierten Versuchen einen Auslass finden wollen, die vernommenen Bewegungen und deren Gründe auszuarbeiten, lässt sich zwischen den Zeilen etwas weniger Glamouröses vernehmen, etwas, das nicht ganz wie Sand im Getriebe, eher wie ein unterschwelliger Strom erscheint, ein seltsames Bindemittel, das immer wieder dort auftaucht, wo die Zügel etwas locker liegen, wo der Trieb, der vermeintliche Anspruch, Wohlgefälliges zustande zu bringen, schöne, gekurvte Formulierungen zu gebären, die leitende und zensurierende Strenge der Aufmerksamkeit ausmanövrieren konnte. Ein Durchbruch. Dieser Unterstrom ist einem kaum vernehmbaren Gefühl geschuldet, einer Sorte von Widerwillen, Strähnen der Furcht und des Ekels, die darauf drängt, nicht zu nahe zu kommen, eine wenn auch phantasierte Nähe abzuwehren oder zu vermeiden. Bloss weg hier. Ich mag mit ihr nicht zu viel gemeinsam haben. Berührungen sind zu vermeiden, Annäherungswünsche heldenhaft zu verleugnen. Das Emblem hierfür ist ein Wetterhäuschen, jene wandmontierte kleine Schatulle mit zwei nebeneinander angeordneten Türen, zwischen denen eine verborgene senkrechte Drehachse, an der zwei den Türen zugeordnete Figuren ihren Ankerpunkt haben. Wenn das Wetter gut oder schön ist, sieht man die Frau vor der Tür und den Mann in der Versenkung des Kästchens, bei schlechtem Wetter, es ist anzunehmen, dass im Hintergrund ein Barometer den Dienst versieht, dreht sich die Frau ins Innere und der Mann lugt heraus. Entweder ist der eine oder die andere aus dem Häuschen. Wechselweise, die senkrechte Achse zwischen den beiden sorgt für eine fixierte formale Polarität. Diese Art der geschlechtlichen Vermeidung wird bei einer lang andauernden Ehe gerne, weil intuitiv auf Verständnis stossend, als eine Überdrussreaktion verbucht. Von Forschern wird wiederum vermutet, dass die Vorlage für dieses Verhalten in der Reaktivierung von ursprünglichen instinktiven Reflexen zur Inzestvermeidung zu finden ist, oder in einer anderen Weise an frühere Erfahrungen mit den selbigen gekoppelt sein wird.

Der Mensch als das entdeckende Wesen, das seine streunende, ortsungebundene Natur im Laufe seiner kulturgeschichtlichen Entwicklung bis zu einem gewissen Grad gezähmt und gegen weitere Formen des Besitzens in der Art der Ortstreue und der Sesshaftigkeit eingetauscht hat, muss seine durch Spiel- und Forschungstrieb befeuerte Ader nun in geregelteren Bahnen ausleben. Auch ich finde. Ich sehe etwas, wenn auch kein Knöllchen auf dem Boden, dann doch etwas wie ein funkelndes, verheissungsvolles Etwas im Erz, zwischen den Zeilen, zwischen den eigenen Zeilen. 

Paul said: ’There is in each of us an ancient force that takes and an ancient force that gives. A man finds little difficulty facing that place within himself where the taking force dwells, but it’s almost impossible for him to see into the giving force without changing into something other than a man. For a woman, the situation is reversed.’

Jessica looked up, found Chani was staring at her while listening to Paul.

‘Do you understand me, Mother?’ Paul asked.

She could only nod.

‘These things are so ancient within us’, Paul said, ‘that they’re ground into each separate cell of our bodies. We’re shaped by such forces. You can say to yourself, ”Yes, I see how such a thing may be.” But when you look inward and confront the raw force of your own life unshielded, you see your peril. You see that this could overwhelm you. The greatest peril to the Giver is the force that takes. The greatest peril to the Taker is the force that gives. It’s as easy to be overwhelmed by giving as by taking.’ (3)


Gegensätze wie Paare und Pole haben eine strukturierende Funktion in der bewussten Erlebniswelt. Geben wie nehmen, suchen wie finden, innen wie aussen, bestimmen Vektoren, anhand deren die Erfahrung oder die Erfahrungen des Lebens kartographiert werden kann bzw. kartographiert werden können. Sie findet, während ich suche, während ich versuche mein Suchen-wollen zu verdrängen. Wer ackert, der sucht nicht. Sie findet ohne gesucht haben zu wollen, ohne sich der Suche verschrieben zu haben, sie bereichert sich und in dem Moment wird mir eine Ahnung über meine eigene Verarmung erfahren. Sie wird mir erfahren, ohne meinem Einverständnis. Für so etwas habe ich keine Begeisterung übrig. Ist etwas nicht in Ordnung, frage ich mich etwas später. Das Jahr nähert sich dem Ende, ein Fest der Freude bahnt sich an, beschenkt werden wollen, Lücken, die geblieben sind und die erfüllt werden wollen, Begehren, Ausklänge, die Freude über den Wendepunkt, über den nahenden Neubeginn. Es ist das Zeitalter der Such-Maschine.

To roam, to seek, to forage, to hoard, to order. To wonder.

Ein letztes Bild, eine andere Such-Maschine, das eines eben freigelassenen jungen Hundes auf einer Wiese, welches sich losreisst und mit freudiger Begeisterung, die so ansteckend sein kann, losrennt und links und rechts alles anschnüffelt. Bald werde ich wieder meine Bahnen ziehen, meine wohlgeformten täglichen Kreise drehen, mich in Wiederholungen und Routinen ergeben und mich fragen, an Eroberer und Abenteurer denken, an jene ungebundenen Wesen, die in vermuteter Offenheit und Unerschrockenheit den Freuden der Entdeckung nachjagen. Wie steht es mit meiner Freiheit? Welche Überraschungen und Übertretungen werde ich mir gestatten? Worüber werde ich mich in den kommenden Zeiten noch wundern und welche Gelegenheiten werde ich ergreifen? Sich wundern, sich das Wundern offenhalten als eine Möglichkeit der Entwicklung, die Schranken der eigenen Enttäuschungen, die wie Scheuklappen die Sicht verengen, versuchen aufzudehnen, eine Offenheit zurück zu erobern, eine Art der Piraterie entwickeln, die mit vorurteilsloser Freude den auf der Wiese verstreuten Möglichkeiten zu begegnen weiss, das sei das Ziel, das ich mich endlich trauen will mir auf meine Fahnen zu heften. Das Zeichen für dies Unterfangen sei eine kreisrunde, strahlende Sonne.

***

References:

1 Panksepp, J. (2010). Affective neuroscience of the emotional BrainMind: evolutionary perspectives and implications for understanding depression. In: Dialogues Clin Neurosci. 2010;12(4). pp.533-45. doi: 10.31887/DCNS.2010.12.4/jpanksepp. PMID: 21319497; PMCID: PMC3181986. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3181986/

2  Devereux, G. (1951). Interview XXIX. Reality and Dream – Psychotherapy of a Plains Indian. New York, NY: International University Press. p.296.

3 Herbert, F. (1965). Dune. London: Hodder & Stoughton. ISBN 9780340960196. p. 480.

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04o :: Auf Abstand


Ich sehe nicht mehr so gut. Früher hab ich zumindest besser gesehen. Da habe ich über dieses Thema auch keine besonderen Gedanken gemacht. Es funktionierte einfach. Die Augen taten das, was sie tun sollten. Sie versorgten mich mit Eindrücken und Informationen und ich konnte mit meiner Aufmerksamkeit meine Dinge ohne auf Hindernisse zu stossen einfach erledigen. Es kam aber der Tag, als ich merkte, dass es nicht mehr so flüssig läuft. Plötzlich hatte ich Schwierigkeiten, Buchstaben zu entziffern. So sehr ich mich auch angestrengt habe, es ging nicht mehr. Zunächst wunderte ich mich. Ein Erstaunen ergriff mich. Es ist wohl soweit. Ich bin in diesem Alter angekommen und so kam es, daß ich mir eine Brille zugelegt habe. Eine kleine Veränderung trat in mein Leben, die Brille begann zu einem ständigen Begleiter zu werden. Ich muss sie suchen, wissen wo sie ist. Bis hierher hatte ich mein Leben in einer unausgesprochenen Überzeugung, also ohne es bewusst zu werden, gelebt, die da heißt: Meine Sicht ist in Ordnung. Und ich denke, es geht vielen so, die sich nicht mit der Tatsache auseinandersetzen mussten, dass sie ein Hilfsmittel zum sehen benötigen. Sie alle dürfen so, unbeschwert, durch die Welt gehen. Aber ist oder war meine Sicht wirklich in Ordnung? Es ist schön, blauäugig sein zu dürfen, aber vielleicht kann es auch schön sein, die Sicht auf die Dinge zu hinterfragen.

Nun habe ich eine Brille und mache mit ihr neue Erfahrungen. Von einer dieser möchte ich kurz berichten. Nichts Aussergewöhnliches, jeder der eine Brille, oder besser gesagt eine Lesebrille benötigt, wird sie kennen. Und die, die schon jemanden beobachtet haben, der versucht mit eben dieser besagten Brille etwas zu entziffern, werden auch wissen. Es geht um diese sonderbar anmutende Bewegung, in der man versucht, den richtigen Abstand zu finden. Der Kopf wird dabei leicht nach hinten oder nach vorne gezogen, das Lesestück in der Hand wird dabei gegenläufig durch den Raum bewegt. Ein hin und her, eine Pendelbewegung, zwischen zu nahe und zu weit, ist es genau das, was das Wort Fokussieren bedeutet. Denn die Sequenz der Linsen, die nun das Lesen ermöglichen, bedingen eine ganz bestimmte Weite, die Brennweite. Je billiger die Brille, desto knapper die Bandweite, in der diese scharf genug ist. Man denke da an die Fotokameras, die man, das war vor langer Zeit, mit der Hand auf die richtige Entfernung händisch einstellen musste. Es passiert zu leicht, dass das Bild in Unschärfe abgleitet. Sowohl bei der Brille als auch mit den alten Fotokameras. Dies verursacht Ärger. Bedächtiges Näherrücken und oder von sich halten, anmutend und grotesk zugleich. Etwas oder jemanden auf Abstand halten. So bin ich gezwungen, die Dinge, die ich lesen möchte, auf genau diesen Abstand zu bringen, in dem mein Sehapparat klar funktioniert. Sonst gehts nicht. Und da kam der Gedanke, was ist, wenn mir hier ein Phänomen vor Augen geführt wäre, das mir etwas von der Welt erzählt, von der Welt der Wahrnehmung mehr im allgemeinen. Was wäre, also, wenn dieses Werk, dass ich zur Erkenntnis, zur Orientierung, zur Wahrnehmung verwende, das Gehirn, die Seele, die Psyche, ja ganz ähnlich arbeitet? Ich begann mir Gedanken über Abstände zu machen. Eben beschrieb ich noch eine merkwürdige altersbedingte Erstarrung des Sehapparates, dem behelfsmäßig mit Behelfen, Händen und Füßen entgegengewirkt wird. Gleichzeitig ist da aber auch ein Mensch neben mir. Sehr nahe. Wir berühren uns. Empfindungen strömen herein und gleichzeitig springt dieser Gedanke: Wer ist diese Person? Kenne ich sie? Kann ich sie sehen? Nein, ich meine, kann ich sie wirklich sehen? Kann ich sie sehen für das was sie ist? Oder ist sie mir vielleicht dafür eben zu nahe? Oder noch schlimmer. Kann es sein, dass das, was man für das Einfachste und für das Natürlichste auf der Welt hält, einen Menschen zu sehen, oder besser, zu erkennen, in Wirklichkeit eine höchst schwierige Angelegenheit ist? Soweit die Kaskade der eigenen Verwirrungen. Gefühle der Unsicherheit aber auch der Aufregung machten sich bemerkbar. Ich bin da etwas auf der Spur. Sehapparat, Wahrnehmungsapparat. Sehen, erkennen, navigieren, lesen, handeln, manipulieren.

Fig: A cross-section of the Kitt Peak National Observatory’s 2.1-meter telescope building.

Ist sie mir zu nahe? Soll ich mich von ihr entfernen? Passt mir diese Nähe? Wird sie zu eng? Bedrückend? Ich denke da an Konrad Lorenz, an die Graugänse, an das Zürcher Modell von Norbert Bischof, denke auch an das strukturelle Modell von Freud, dem Es, dem Ich, dessen Zugang zum System Wahrnehmung, die seitlich aufgesetzte Hörkappe. Regulierung von Abständen: Nähe, Weite, Fremde, Autonomiebedürfnis und Sicherheitsbedürfnis. Ist sie mir zu nahe, werde ich von Gefühlen geflutet, meine Wahrnehmung wird unscharf, da sie durch meine eigenen Bedürfnisse, die ich auf sie projiziere, getrübt wird. So kann ich sie nicht sehen. Ist sie mir zu weit, so erreichen mich wiederum nicht genug relevante Signale, das ich mir ein stabiles Bild, das frei von anders gearteten Projektionen: Sehnsüchten, Idealisierungen, von ihr machen könnte. Das Modell ist das eines Doppelkegels, die Spitze der zwei Kegel berühren sich im Brennpunkt, in dem Punkt, der den Abstand markiert, in dem ein scharfes Sehen möglich sein könnte. 

Wie aber kann man den Abstand ermitteln? Ist der immer gleich, eine Konstante? Oder müssen wir von mehreren solchen Brennweiten ausgehen? Für unterschiedliche Situationen? Personen? Gefühlszustände? Erlebnisse? Ist diese Brennweite, der Idealabstand, den ich benötige um eine bestimmte Person wahrnehmen zu können, wohl wahr eine statische Konstante? Zu ihr fühle ich mich hingezogen, dann wiederum katapultiert es uns auseinander, Zeit vergeht, und es passiert wieder. Ein Rhythmus stellt sich ein, ähnlich wie der Lauf der Planeten oder der Lauf des Mondes. Um aber der Vehemenz unserer Bewegung auch voll Rechnung zu tragen, ich würde da doch an einen Kometen denken: periodische Wiederkehr, hohe Exzentrizität, hohe Erwartung, großes Ereignis, alles in allem, ziemlich geladen.

Nun ist es so, dass die Gegenwart eine Zeit ist, die davon bestimmt zu sein scheint, dass eine erhöhte Ansteckungsgefahr herrscht und Mann und Frau angehalten sind, räumlich auf Distanz zueinander zu gehen und zu bleiben. Sicherheit der eigenen Atmosphäre wegen. Der Begriff, der sich so im Zwischenraum eingenistet hat kann frei mit sozialer Verabstandung übersetzt werden, der Raum ist Träger einer Gefahr, die wiederum drückt sich in Ansteckung, als Übertragung aus, Nähe wie Fremde erscheinen nun als angsterzeugende Gegenpole.  

Fig: Lichtbogenschweissen.

Fügen von Metallteilen mittels Elektrodenschweißen ist eine Technik, die an und für sich nicht schwer zu verstehen ist, es handelt sich dabei um keine Raketenwissenschaft, eher eine vergleichsweise einfache Angelegenheit, die einfach, mittels zwei-drei gut formulierten Anweisungen ausreichend erläutert und vermittelt ist. Die Kunst, die dabei vollbracht werden muß, liegt in der Praxis der Ausführung. Eine stabförmige Elektrode, die beim fügen stetig abschmilzt und so die Schweißnaht erzeugt, muß entlang der zu fügenden Oberflächen in einer gleichförmigen Bewegung gezogen werden. Die Arbeitsweise der Schweißtechnik ist wie die eines Gewitterblitzes. Zwischen Elektrode und dem Werkstück sollte eine ständige elektrische Entladung stattfinden, ein sogenannter Lichtbogen, der einmal gezündet, brückt den Raum zwischen Elektrode und Werkstück. Die Spitze der Elektrode muß dabei in einem speziellen und unveränderlichen Abstand zu den fixierten Kanten des Werkstückes bleiben. Ist sie zu nahe, schnappt die Elektrode magnetisch angezogen an das Werkstück. Ist sie zu weit, reißt der Strom ab. In beiden Fällen erlischt die permanente Blitzendladung, der Bogen, der Schweißvorgang ist unterbrochen, die Kontinuität und der Zusammenhang der Schweißnaht ist nicht gewährleistet.

Es ist gar nicht so leicht, es braucht einiges an Übung, um die stets kürzer werdende, abschmelzende Elektrode mit der entsprechenden Präzision zu führen. Der Blick durch das Quarzglas des Schutzschilds, eingeengt, getrübt, in eine relative Blindheit gefasst. Übung ist hier von Vorteil, man ist leicht geneigt, gekrümmt, aufzugeben, die Arbeit dafür bekannten, erprobten Fachleuten zu überlassen.

Ein Disto. Ich fuhr nach Leopoldau. Nahm die U-Bahn von Nestroyplatz. Es war so gegen halb sieben am Abend. Zunächst dachte ich, viel zu spät, dann, etwas später, auf die Garnitur wartend, dachte ich, viel zu früh. Wieder einmal viel zu früh und ich werde warten müssen. Wie langweilig.

Dabei versuchte ich nicht einmal mir ein Bild von meinem Kontakt zu machen. So egal. Was ich wußte, Dominik, vom Schreibstil etwas im Kampf mit sich selbst, sich selbst oder mir im Weg, dafür von ausgeprägter Freundlichkeit. Dazwischen überraschende, weil der Sache nicht ganz angemessene, mich entwaffnende Fetzen von intimen Bekenntnissen. Er muß noch seine Freundin fragen ob sie nicht was vorhaben. Er mußte noch den Kleinen abholen. Er hat kein Auto, wüßte nicht, wie er zum Praterstern kommen solle. Tat mir fast leid. Das machte es einfach. Ein fantastischer Freund. Ich war noch nie in Leopoldau. Mein Streckenrekord die Richtung betrug Kagran, und das liegt auch schon Jahre zurück. Noch den Stolz in der Tasche, meinen Horizont in die andere Richtung kürzlich erweitert zu haben. Alaudagasse. Per Albin Hanson Siedlung. Ein fremder Planet. Und nun der nächste. Rennbahnweg. Großfeldsiedlung. Der Silberpfeil durchbohrt nach Kaisermühlen die Oberfläche, tritt hinaus, schiesst, gleitet. Die Weite des Himmels, ein letzter dunkeloranger Streifen im Westen, Spuren der längst untergegangen geglaubten Sonne, versetzt meiner Stummheit einen weiteren Schlag. Verschlägt meiner Sprache den letzten Rest. Bumm. Kaum noch Leute in der Garnitur. Kein Wunder. Eine Scumabscheide folgt der nächsten. Was muß ich so weit fahren? Was tue ich hier? Will ich dieses Ding? Was treibt mich da an? Zwei Kapuzen über dem Kopf. Der Härtling, der Prolo, der, von dem alles abperlt, der sich keine krummen Gedanken macht, der einfach macht, der streunt. Die Fahrt bringt neue, altbekannte, lange nicht mehr getragene Schattierungen meines Wesens hervor. Schatten? Nicht da. Neonlichtbänder. 70er Jahre Moderne. Abgerundete Monotonie. Ich sah das Ding auf Willhaben. Marke Hilti. Die andere Option: eine Leica. Hilti ist aber Haklerbrutal, etwas für dicke Arbeitshandschuhe. Die Leica hat eine Mutti im Angebot, neu, originalverpackt, nie verwendet. Graziös. Mehr als in echt. Dominik’s Hilti sah man eine wettergegärbte Vergangenheit an, eine Karriere in der Sandgrube. Ich will messen. Ich will es wissen. Wie weit ist was. Ich will einen Plan machen. Dafür brauche ich ein Messgerät. Das Unvermögen wuchs in den letzten Tagen ins Unermessliche. Steht mir im Weg. Vor Jahren hatte ich ein Disto. Ausgeliehen. Eine Scumabscheide nenne ich Abzweigungen: zum Beispiel bei Stadtautobahnen, in die Stadt mündend, vor mir der dichte, gräßlich aggressiv geladene Verkehrsstrom. Schreckliche Renaults, Opels, Dacias, Hyundais. Und dann kommt die Abfahrt, von der ich weiß, die führt in den Elend, von der ich weiß, wer da abbiegt, der hat verloren, und ich weiß, es werden viele sein und nachher wird die Straße wie leergefegt sein und ich werde meine Fahrt ins Zentrum mit einer neu ausgestreuten Würde, in stiller Eleganz fortsetzen können. Ähnlich auch bei U-Bahnen. Es gibt die Stationen, die funktionieren ähnlich. Sprechen wir hier noch über Architektur? Über den Raum? Über Hass, Niedertracht, Liebe? Die anderen, weg, in den dunklen Wahnsinn am Rande des Universums rasend. Blind. Ich aber, in mein eigenes Ghetto, auf meine eigene Hitzeinsel steuernd. Praterstern. Donaukanal. Nicht gerade Sehnsuchtsorte des Volksglaubens. Ich weiß es besser. Bin von da. Tempelbezirk samt Kommissariat und Wachsoldaten mit Sturmgewehren im Anschlag, dem seit biblischen Ewigkeiten gleichförmig flackernden Neonreklame des koscheren Eckladens: ausgesetzt. Köstlichkeiten vom toten Meer. Der alte Weissbart vom Eck in der Wüste in die Kamera grinsend. Ecken. Letzte Reste Kopfsteinpflaster. Salzpackungen im Arm. Er war mal also dort. Sicher nicht mit seinem verbeulten weißen VW T4 Transporter. Ich will mich nicht vergreifen. Dominik ist pünktlich. Will dann aber auch nicht gleich loslassen.

Dominik ist sauber. Kleine, funkelnde Augen, rasiert. Kurzhaarschnitt, Jeanshosen, Baumwollhemd, schön in der Hose verstaut. Grauer Mantel?, sagt er und sieht mich fragend an. Das war das Erkennungszeichen, das ich vorausgeschickt hatte. Die Unterführung ist auch sauber,  von Menschen leergefegt. Einzelne Schicksale. Ein junges Paar mit einem Kinderwagen in verkrampfter Haltung auf der Mission zum Zigarettenautomaten. Kein Vergleich mit meinen Phantasien, die sich aus Erfahrungen mit Bahnhof Floridsdorf speisten, der Wahnsinn bleibt hier aus oder hat hier eine unterkühltere Erscheinungsform angenommen. Willhaben Dominik. Ist pünktlich, flinke kleine Bewegungen, wir steuern die Treppe Richtung Ausgang an. Das Disto in seiner Hintertasche. Der Stoff spannt, läßt die Kanten erkennen. Wie bloss kann ich ihn abzocken? Er geht vor mir. Erzählt von seinem Onkel. Der hat einen Betrieb, wenn ich das Ding kalibirieren lassen möchte, soll ich das über ihn machen. Der Onkel erscheint wie einer, der große Türen aufbekommt. Seriennummern abfeilen, aufpassen, keinen Blödsinn machen. Nicht daß das Gerät kalibriert werden müßte, aber man weiß ja nie. Ich höre mir die Clansgeschichten an, wie ein Vorspiel, bis er dann endlich das Gerät aus seiner Hosentasche zwickt. Ich soll ihm zuhören. Er sei drei Stationen mit dem Bus gefahren um herzukommen. Der Hund hat die Hülle des Geräts gerade zerbissen. Dominik wirkt wie einer, der froh ist mal kurz rauszukommen. Er richtet das Gerät auf einen Baum. Schau, 35 Meter. Der alte stumme Baum am Ende des versiegelten Vorplatzes. Abgeschossen. Vermessen. Gotcha. Ja, ich bin beeindruckt. Onkel, Cousin, er plaudert. Während dessen stelle ich mir die domestizierte Hölle vor, von der er gerade sich eine Pause herausquetscht. Hund, Kind, Freundin, die sanierte Wohnung, die Horde Männer, Testosteron, Fliesenlegen, Auto in der Werkstatt. Eine hauchdünne Oberfläche, ein Laminat des Glücks, unter der aber Chaos und Enge herrschen. Eine Vierzigstundenexistenz. Ich muß hier weg. Gib das Ding endlich her. Ich zück die Scheine aus meiner Hosentasche. Reiß die Leine. Hacke seine zarten Kontaktangebote jäh ab. Eine Grenze muß her. Ja, 70 sind ok, in Anbetracht der zerbissenen Hülle. Das tut seiner welpenhaften Fröhlichkeit keinen Abbruch. Und jetzt jeder zurück in seine Kiste. Dein Wahnsinn, mein Wahnsinn, dazwischen: Sicherheitsabstand. Es ist bereits spät. Dunkel. Und morgen kommt die Sonne heraus.

Das was ich für dieses Disto auf mich genommen habe, glaube ich nicht für ein Maßband jemals getan zu haben. Beide bedienen das ebengleiche Bedürfnis, Abstände möglichst präzise und mit erträglichen Aufwand bestimmen zu können. Aber nehmen wir einen Schritt zurück und betrachten wir das bisher Dargestellte. Diese nämlich würde ich vorschlagen, als Anekdoten zu verstehen, dessen Sinn oder Funktion es sein könnte, mein persönliches Interesse an dem Thema zu illustrieren. Das wiederum erscheint sich um den Begriff des Abstandes zu zentrieren. Ein Abstand. Wohl ein Begriff, der nicht bloss in der Architektur wie auch auf dem Gebiet der Seelenforschung Einzug gehalten hat. Man könnte meinen, als Begriff oder Vorstellung hat das Wort eine organisierende oder strukturierende Fähigkeit. 

Wo aber könnte die Wurzel der Bedeutsamkeit dieses Wortes liegen? Die Entwicklung eines zentralen Nervensystems scheint evolutionär mit der Fähigkeit, aktiv durch den Raum zu steuern zusammenzufallen. Pflanzen haben in ihrer Morphologie auf wunderbare Weise Abstände, Größen, eingeschrieben, tragen sie aus. Blätter, Blüten, die wie wir nun entdecken können, ganz bestimmte Zahlenreihen bilden. Es sind aber wir Menschen, die die Erscheinung, sagen wir die göttliche Schönheit der Proportionen, auch als Zahlenreihe, als eine Abfolge von Abständen, die einer einfachen wenn auch mathematischen Regel folgend, erfassen können. 

Es geht um Beweglichkeit. Bei den Pflanzen wohl um Elastizität, um Tragbarkeit, um ein Optimum von Fülle und Weite im Lichte der Logik von Zug- und Druckkräften, von Oberflächenspannung und Füllmenge. Hier wird die Frage der Größenfindung bereits auf zellulärer Ebene, wenn auch weitgehend unbewusst, aufgenommen.

Fig: Takaki et al, Simulations of Sunflower Spirals and Fibonacci Numbers

Der Mensch jedoch, als das vermeintlich letzte Glied der evolutionären Entwicklungskette, verkörpert aber auch den höchsten Grad der Entwurzelung, sprich der Beweglichkeit, die jeher als die Möglichkeit zur Freiheit, zu einem unabhängigen, vielleicht bedingungslosen, freien Willen zu erfahren wird. Er kann seine Beweglichkeit sinnlich erfassen, darüber eventuell auch meditieren. Da gibt es aber auch das Reich der Tiere, die mehr oder weniger so vor sich hinhoppeln, hüpfen, kriechen, segeln, schwimmen, ohne viele Gedanken darüber zu verschwenden.

Ich geh jetzt eine Runde radfahren. Die Sonne scheint, nicht mehr lange, und die neue Gegend gehört erkundet. Nicht zu lange, denn das Stiegenhaus gehört auch noch vermessen, und das geht nicht nach Sonnenuntergang. Abstand gewinnen. Abstand nehmen. Bezug finden. Das Weite suchen, sich nicht in die Enge treiben lassen. Raum geben, Raum nehmen. Ein Perspektive entwickeln, die Perspektive ändern, einen neuen Horizont finden, erweitern, die räumliche Parallaxe nutzbar machen. Es sind topographische Strategien, die hier aus der Beweglichkeit heraus möglich werden. Aus diesen entspringt das Kunsthandwerk des Landvermessers und das Schicksal des Nomaden. Den Raum erkunden, besetzen, wandern. Nähe zulassen. Im Lichte abstandsbezogener Phänomene erscheinen das Elektron, der Hirsch und der Mensch Ähnlichkeiten im Verhalten zu zeigen. Sie alle besitzen scheinbar einen territorialen Anspruch, eine Geographie, dessen Merkmal es ist, daß sie einen bestimmten Abstand beanspruchen, in dem eine Leere zu herrschen hat, und wenn dieser unterschritten, sprich konkurrierend besetzt wird, Unruhe entsteht und ein Verhalten zur Wiederherstellung der räumlichen Ordnung entwickelt wird. Der Abstand wird verteidigt. Die Packdichte, bestimmt durch den kritischen Abstand, erscheint als eine merkwürdige Eigenschaft samt einer zugehörigen spezifischen Konstante. Auch hierin scheint der Mensch jedoch zu gewissen Anomalien fähig zu sein. In Massenpsychologie und Analyse des Ich geht Freud auf die Spurensuche eines Phänomens, das wohlwahr zum Staunen verleitet. Dies betrifft die Fähigkeit, eine Kompaktierung zu einer Masse zuzulassen, in dem der kritische Abstand zum anderen erheblich herabgesetzt wird und verblüffende Packdichten erreicht werden. In der Schrift beschreibt er die psychische Arbeit, die zur Verwirklichung solcher Dichte notwendig ist, eine Dynamik, die mit dem Umschalten gewisser interpsychischer Beziehungssysteme von einem Modus A in ein Modus B erfasst werden könnte. Tatsächlich ist der Begriff Verdichtung ein wesentliches Postulat im Verstehen unbewusster Vorgänge, psychischer Kalkulationsprozesse. 

Nimmt man so während eines gewöhnlichen Werktages zum Beispiel die U-Bahn, wie bereits oben kurz skizziert, so kann es geschehen, dass man sich in einem Waggon wiederfindet, wo sich Körper an Körper reiben. Die Türen schliessen sich, eine Unzahl von sich unbekannten Wesen verharren dann in einer verhältnismäßig starren Position. Sie halten es aus. Was genau? Laut Freud besteht in dem Moment die wesentliche geistige Leistung daraus, den libidinösen wie den aggressiven Impulsen einen dammartigen Aufschub zu leisten. Nicht den einen umbringen, nicht den anderen begehren, nicht ausrasten. Sich versteifen. Am besten niemanden ansehen. 

Dominik konnte ich auch nicht sehen. Statt ihn zu sehen, machte ich mir ein Bild von ihm, eine Skizze entstand, der man nachsagen könnte, sie sei etwas karikatuenhaft. Überzeichnet, vielleicht von eigenen Abwehrreaktionen gezeichnet, von Gefühlen, die sich im Zusammentreffen mit ihm entfaltet haben und dazu beitrugen, die Begegnung auszuhalten, zu stabilisieren. Der Abstand zu ihm war nicht der wahre, der Baum, 35 Meter, er gleich neben mir, blinzelnd, redend. Ein Abstand hat in sich, der richtige oder der falsche zu sein. Abstände können in diese Sphären polarisiert werden: Soll und Ist, Richtig oder Falsch.


Fig: LeCorbusier, Der Modulor.




211006


Bildquellen:

https://noirlab.edu/public/images/noao-03656/

https://noe.lko.at/elektroschwei%C3%9Fen-schnell-zu-sauberen-n%C3%A4hten+2400+2801277

https://www.semanticscholar.org/paper/Simulations-of-Sunflower-Spirals-and-Fibonacci-Takaki-Ogiso/1da883086701eb669e3554cddfe83524c8a6a2f9

https://www.livescience.com/37470-fibonacci-sequence.html

https://www.lescouleurs.ch/journal/posts/der-modulor-menschennaehe-als-grundwert

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04n :: Dann halt nicht.

Ein Mann im mittleren Alter, sitzend, eine Zigarette rauchend. Ort ist ein kleiner, beengend wirkender, hofseitiger Klopfbalkon eines Zinshauses im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Die den Hof begrenzenden Hauswände lassen den Begriff Hausschluchten aufleben und den Hof, mehr hoch als weit, wie einen Brunnenschacht wirken. Ringsum, in den Wänden eingelassen sind Küchen-, Badezimmer- und Klofenster. Es ist heiß, die staubtrockene Hitze staut sich, wirkt abgestanden. Die Atmosphäre wird ergänzt durch den Geruch der im Hof aufgestellten Mistkübel sowie durch Düfte, Dämpfe und Geräusche aus den umliegenden Badezimmern, Toiletten und Küchen. Hinzu kommt das pausenlose und triebhafte Gurren und Flattern von Tauben. Der Balkon ist dreiseitig von Mauern umschlossen und öffnet gegen Osten, ist auf der offenen Seite mit einem grauen Eisengeländer versehen und mit einem Netz aus Kunststoff zwecks Taubensicherung verhangen. Die grauen, staubbefallenen Mauern beinhalten nordseitig ein vergittertes Fenster und westseitig eine zweiflügelige Balkontür aus Holz mit altem, abblätternden Lack und gerippten Milchglasscheiben. Das Mobiliar des Balkons verstärkt den ursprünglichen Eindruck, eine Mischung aus Verwahrlosung und Gleichgültigkeit. Ein Stuhl aus Holz, ein Mörteltrog mit einer zufällig übrig gebliebenen Spanplatte abgedeckt, einige unbenutzte Kunststoffblumentöpfe und eine ebenfalls zufällig wirkende Ansammlung von Balkonpflanzen. Darunter eine Begonie, alt und zäh, ein Palmengewächs, Efeu in zwei Töpfen mit jeweils kleinen und ausgemergelten Blättern entlang der zarten, halt suchenden Ranken. Man sieht den Versuch, am Grau des Mauerputzes und am Kunststoff des Taubennetzes anzuhaften. Der Mann hat auf dem abgedeckten Mörteltrog, dem Holzstuhl gegenüber, Platz genommen. Begonie vor ihm, Palmengewächs zu seinem rechten Fuß, an der Metallbrüstung, Efeu hinter ihm. Er sieht zu der Begonie hinüber. Macht einen Zug aus der Zigarette. Blick wandert hinab zum Palmengewächs. Etwas in ihm veranlasst die folgende Frage laut zu artikulieren: Wollt ihr Wasser? Es folgt Stille. Dann, ein zweiter Satz: Dann müsst ihr dafür was tun. Die Anordnung der Wörter spiegelt eine Distanz zur gesellschaftlichen Kultur, vielleicht zur Würde. Diese ist nicht ganz schriftreif, die Grammatik von beginnenden Zerfallserscheinungen geprägt. Der Gedanke, der sich hinter der Frage verbirgt, zeigt jedoch etwas beklemmend Ernstes über das Wesen des Menschen. Dieser könnte zunächst wie folgt entschlüsselt werden: Was bekomme ich dafür? Der Beginn allen Wirtschaftens liegt in der Erkenntnis über eine Fähigkeit, etwas tun zu können, was einem anderen helfen würde und in der gleichzeitigen Erkenntnis, dass aus der Not dieses anderen sich eine Bereitschaft etwas ihm Wertvolles herzugeben ableiten läßt. Stille, die nun am Klopfbalkon, lediglich von Geräuschen der umliegenden Bedürfnisräume erträglich gemacht, etwas schmerzhaft erscheint. Schliesslich ein dritter Satz: Na dann halt nicht. Der Mann im mittleren Alter dämpft seine Zigarettenkippe aus, erhebt sich von der Kiste, geht einen Schritt und zieht die Balkontür hinter sich zu.




220630

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04m :: Stadt der Träume



Korrekturen:

Das Blatt gut eingespannt. So fängt der Spass an. Einspannen. Festhalten. Niederzwingen. Montag. Presse. Alles brüllt. Vergisst das und, verkehrt ein oder. Wägt. Einsame Bahnen, Wasser, gezogen. Noch immer: Montag. Ein Fest der Sonderzeichen, ganz gewöhnliche Zeiten. Kreise. Hundegebell. Familienangebot, Multipack. Ab und an ein kleiner Fehler. Alles wird unterlaufen, untergraben. Maulwürfe, weite. Fegre. Leere Besessene, die auch hier noch nicht so viel mit der Freiheit der Spalte was anfangen wissen. Wir nehmen: Fahrt auf. Wir nehmen: Alles. Rückgabe ausgeschlossen. Jeder Fehler, ein Treffer, jedes Treffen ein durchschlagender, nicht enden wollender Erfolg. Die Abgaben, die Steuer, das Vieh, die Müh. Zeilen, die immer länger werden, dabei langsam an Inhalt verlieren, mit anderen Worten: ausdünnen. Traurig aber wahr. Abteilen, Abzeichen, das Jahrhundert der Industrie, de Norm. Der Norm. Formate ersetzen Akzente. Wahr ist nur, was traurig ist. Ohne Traurigkeit, kein Wahrheitsgehalt. Überhaupt: Kein Gehalt. Walten, walten, administrieren, Gewalt, mit oder ohne dem Mitnehmen von freien, wilden Tieren. Fehler. Fehler. Untergang, mit jeder Zeile näher rückend, ein Ende, ein Aus, eine Blattkante. Eben war es noch schön, alles noch klar, rein und leer die Seite, voller Ideen die Jugend, Tatendrang, auch in anderen Gegenden. Einer gegen alle, alle zum Strand, in den Stand. Heftig. Gewitter. Sonderzonen. Eiffelköpfe, Fersentürme, Verzweiflung. Irritation im Bierkrug, jene nicht gerade, nicht Jugend, nicht frei. Wegen Beckenspülung geschlossen. Notwendige Entartungsarbeiten, Gestapolis, Stadt der Träume.





210526

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04l :: Grossgruppe





Im Regen
Ich wollte meinen
Ich wollte meinen
Ich wollte einen
Ich wollte einen
Vielleicht weinen
Wollten die
auch 
nur
einen
Ich wollte weinen

Beobachter schaut
aus dem Fenster





191003

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04k :: Menni kell




Az imént még tükör simán feszült az őszi víz felszíne

Enyhe didergés, nedves füvön, gáton.

Búcsú reggeli az élettől míg egyesek fúrnak, faragnak s vésik a létet sebesen

Uralkodás. Uralom, szép színeken, kaszálás illata pereg

Dombol s menni kell.






201009

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Protected: 04j :: Am Ende der Fastenzeit

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04i :: Sei stark




Altes Ei — Gutes Ei
Dotter gelb von
Eh und Jäh Bären
Starker Urzeit Sch
Mäh — Drückt Dir
Rein — Schluck den
Schlatz — Sei ein
Adler und kein Spatz






190423

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04h :: Montag Morgen




Der Obdachlose mit dem Rauschebart, der an einem Montagmorgen am Verkehrsschild “Einbahn” rüttelt. 





160718

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04g :: Durch die Nase




Riesenfreund

Atrikelscherz

Am Ort des Versprechens

Des Verbrechens

Gott traf noch vor der Polizei ein

Er erkannte sich selbst

Entlarvte

Seine Essenz

Eigens angefertigte

Im Vergehen

Gehegenfreiluft

Durch die Nase

Durch den Mund

Durch die Haut 

Ab.







160216

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